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Der W-Sitz und was dahinter stecken kann

  • Autorenbild: Charlotte Münstermann
    Charlotte Münstermann
  • 22. Okt.
  • 4 Min. Lesezeit
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Viele Kinder sitzen ganz selbstverständlich im sogenannten W-Sitz, auch Zwischen-

Fersen-Sitz genannt: mit angewinkelten Knien, nach innen gedrehten Beinen und den Füßen seitlich neben dem Po. Für Eltern wirkt diese Haltung oft harmlos – schließlich scheint das Kind bequem und stabil zu sitzen. Doch aus ergotherapeutischer Sicht kann der W-Sitz ein wichtiger Hinweis auf die motorische Entwicklung und auf noch aktive frühkindliche Reflexe sein. Auf Dauer kann der W-Sitz zu Gelenkproblemen, muskulären Dysbalancen und einer verminderten Rumpfaktivität führen – und ist damit mehr als nur eine bequeme Sitzhaltung.


Warum Kinder im W-Sitz sitzen

Der W-Sitz bietet Kindern eine große Auflagefläche und damit maximale Stabilität. Das Kind muss sein Gleichgewicht kaum aktiv halten, weil der Körper durch die Beinposition seitlich „abgestützt“ wird.

Diese Haltung wird häufig bevorzugt, wenn

• die Rumpf- und Hüftmuskulatur noch nicht ausreichend kräftig ist,

• die Körpermitte wenig Stabilität bietet,

• oder bestimmte Reflexe aus der frühen Kindheit noch aktiv sind.

Das bedeutet: Der Körper greift unbewusst auf alte Bewegungsmuster zurück, um sich Halt zu verschaffen.


Frühkindliche Reflexe – was sie mit dem W-Sitz zu tun haben

Frühkindliche Reflexe sind automatische Bewegungsprogramme, die in den ersten Lebensmonaten überlebenswichtig sind und die motorische Entwicklung unterstützen.

Im Laufe des ersten Lebensjahres werden diese Reflexe normalerweise durch bewusste Bewegungen „abgelöst“ – man spricht von Reflexintegration.


Bleiben sie jedoch aktiv, beeinflussen sie Haltung, Gleichgewicht und Bewegungssteuerung noch im Kindergarten- oder Schulalter. Besonders relevant für den W-Sitz sind:


Der Symmetrisch Tonische Nackenreflex (STNR)

Der STNR trennt Kopf- und Rumpfbewegungen voneinander und ermöglicht den Übergang vom Krabbeln in den Sitz.

Wenn er aktiv bleibt, zeigt sich das oft so:

• Schwierigkeiten, aufrecht am Tisch zu sitzen

• Der Oberkörper kippt beim Schreiben oder Malen nach vorne

• Arme und Beine arbeiten nicht koordiniert zusammen

• Häufige Unruhe oder „Herumrutschen“ auf dem Stuhl

• Vermeidung von Bewegungen, die Gleichgewicht fordern


Kinder mit aktivem STNR empfinden den W-Sitz oft als angenehm, weil er ihnen Stabilität gibt, die eigentlich aus der Rumpfmuskulatur kommen sollte.


Der Tonic Labyrinth Reflex (TLR)

Der TLR beeinflusst die Körperspannung in Abhängigkeit von der Kopfhaltung.

Ist er noch aktiv, fällt es schwer, den Körper gegen die Schwerkraft aufzurichten – Kinder kippen leicht nach vorne, wirken unruhig oder schnell erschöpft.


Woran Eltern eine mögliche Reflexaktivität erkennen können

Neben dem W-Sitz gibt es oft weitere Anzeichen, dass frühkindliche Reflexe noch nicht vollständig integriert sind:

• Konzentrationsprobleme beim Sitzen oder Schreiben

• Ungeschicklichkeit und häufiges Stolpern

• Schwierigkeiten beim Balancieren, Klettern oder Schwimmen

• Häufiges Stützen mit den Händen am Boden oder Tisch

• Vermeidungsverhalten bei Bewegungen, die Kraft oder Körperspannung erfordern


Spiegelverkehrtes Schreiben und frühkindliche Reflexe

Ein weiterer Hinweis auf noch aktive Reflexe kann sein, dass Kinder Buchstaben oder Zahlen spiegelverkehrt schreiben – also z. B. b und d, p und q oder 3 und ε verwechseln.

Dieses Phänomen hängt häufig mit dem Asymmetrisch Tonischen Nackenreflex (ATNR) zusammen.


Der ATNR sorgt im Säuglingsalter dafür, dass sich beim Drehen des Kopfes die Gliedmaßen auf der Gesichtsseite strecken und auf der Gegenseite beugen – eine wichtige Vorbereitung für das spätere Greifen.

Wenn dieser Reflex jedoch bestehen bleibt, fällt es Kindern schwer, die Körpermitte zu überkreuzen und beide Gehirnhälften koordiniert einzusetzen.


Das kann zu folgenden Auffälligkeiten führen:

• Spiegelverkehrtes Schreiben oder Vertauschen ähnlicher Buchstaben

• Unsicherheiten bei rechts/links-Unterscheidung

• Mühe beim Abschreiben von der Tafel

• Verlangsamtes Schriftbild oder schnelles Ermüden beim Schreiben

• Auffällige Kopfbewegungen während des Schreibens (Kopf folgt der Hand)


Auch aktive STNR- oder TLR-Reflexe können das Schreiben indirekt beeinflussen: Wenn Kopf- und Rumpfkontrolle instabil sind, muss das Kind viel Energie in seine Körperhaltung investieren – und hat weniger Kapazität für feinmotorische und visuell-räumliche Aufgaben.


In der Ergotherapie wird deshalb gezielt beobachtet, ob diese Reflexe noch aktiv sind und in welchem Maße sie das Schreiben beeinflussen. Durch Reflexintegrationsübungen, Kreuzbewegungen und visuomotorisches Training lassen sich die betroffenen Bereiche effektiv fördern.


Ergotherapeutische Unterstützung

In der Ergotherapie prüfen wir gezielt, ob frühkindliche Reflexe noch aktiv sind, und fördern durch gezielte Übungen die Integration dieser Bewegungsmuster.


Therapeutisch werden u. a. folgende Ziele verfolgt:

• Verbesserung der Rumpf- und Hüftstabilität

• Förderung der beidseitigen Koordination

• Schulung von Gleichgewicht und Körperspannung

• Integration noch aktiver Reflexe durch gezielte Bewegungsübungen


Übungen und Ideen für zu Hause

Auch im Alltag können Eltern spielerisch dazu beitragen, dass der Körper lernt, sich aus eigener Kraft zu stabilisieren und alte Reflexmuster loszulassen.


1. Tierbewegungen


Krabbeln wie ein Bär, Tiger oder Frosch – über Teppiche, Matten oder durch Tunnel.

👉 kräftigt Schultern, Rumpf und Arme und fördert die Kreuzkoordination.


2. Brücke oder Schiebetunnel


Das Kind bildet eine Brücke, während ein Elternteil oder Geschwisterkind unten hindurchkrabbelt.

👉 stärkt die Rumpfmuskulatur und verbessert das Gleichgewicht.

 

3. Balance- und Kriechspiele


Über Kissenberge krabbeln, balancieren oder in Bauchlage Gegenstände einsammeln.

👉 trainiert Stabilität, Gleichgewicht und Reflexkontrolle.


4. Verschiedene Sitzhaltungen anbieten


Abwechselnd im Schneidersitz, Fersensitz oder auf einem Therapiekissen sitzen – am besten spielerisch, z. B. beim Puzzeln oder Malen.

👉 fördert die aktive Aufrichtung und kräftigt die Körpermitte.


5. Flugzeughaltung


Das Kind legt sich auf den Bauch, hebt Arme und Beine gleichzeitig leicht an und „fliegt“ wie ein Flugzeug.

👉 stärkt Rücken- und Gesäßmuskulatur, trainiert die Aufrichtung gegen die Schwerkraft und hemmt den TLR.


6. Schlängeln


In Bauchlage mit den Händen nach vorne kriechen, dabei Arme und Beine abwechselnd einsetzen („Robbenbewegung“).

👉 kräftigt die Rumpfmuskulatur und fördert die Kreuzkoordination – sehr wirksam bei aktivem STNR.


7. Kreuzbewegungen


Im Stehen oder Sitzen abwechselnd rechte Hand zum linken Knie und linke Hand zum rechten Knie führen.

👉 aktiviert beide Gehirnhälften, verbessert die Überkreuzung der Körpermitte und unterstützt die Reflexintegration.


8. Spiel mit Therapiestab oder Ball


Ein Ball wird hin- und hergerollt, dabei muss das Kind ihn über die Körpermitte hinweg fangen oder schieben.

👉 fördert beidseitige Koordination, Gleichgewicht und Wahrnehmung der Körpermitte.


9. „Schwebender Tisch“


Aus dem Vierfüßlerstand heben die Kinder kurzzeitig die Knie wenige Zentimeter vom Boden ab, ohne ins Hohlkreuz zu fallen.

👉 stärkt tief liegende Haltemuskeln und sorgt für mehr Stabilität in Hüften und Rumpf.


Fazit

Der W-Sitz ist kein „Fehler“ – sondern ein Signal, das uns viel über die motorische Reife eines Kindes verrät.

Wenn Kinder dauerhaft in dieser Haltung sitzen oder zusätzlich weitere Schwierigkeiten zeigen, kann das ein Hinweis auf noch aktive frühkindliche Reflexe oder eine schwache Rumpfstabilität sein.

Mit gezielten ergotherapeutischen Übungen und spielerischen Bewegungsangeboten lässt sich die Körpermitte stärken, die Reflexe integrieren und das Fundament für eine gesunde motorische und schulische Entwicklung schaffen.


Herzliche Grüße

Deine Charlotte


🛡️ Rechtlicher Hinweis:

Die Inhalte dieses Textes beruhen auf meinem fachlichen Wissen als Ergotherapeutin sowie auf meinen persönlichen Erfahrungen aus meiner täglichen Arbeit . Dieser Text dient der allgemeinen Information und ersetzt keine ärztliche Diagnose, Beratung oder Behandlung. Es wird kein Heilversprechen gegeben. Der Nutzen einer ergotherapeutischen Maßnahme ist individuell verschieden und hängt vom jeweiligen Einzelfall ab.

 
 

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